Logo Verlag z
e
i
t
s
c
h
r
i
f
t

f
ü
r

l
i
t
e
r
a
t
u
r





litera[r]t [impressum] [verlagsprofil] [einsendungen] [veranstaltungen]
[heft 12] [dezember 2015] wien - st. wolfgang



blättern [zurück] [weiter]
[verlag] [zeitschrift] [archiv] [verein]
[autor|inn|enindex] [reihenindex] [textindex]
Mouches volantes
Notate zum Jahresausklang 2015
Peter Hodina


MOUCHES VOLANTES. Seit gestern ERSTMALS Bekanntschaft mit Mouches volantes im linken Auge: tanzenden Fliegen. Altersbedingte Glaskörpertrübung. Zuvor rund 15 Kilometer zu Fuß durch Berlin marschiert, vom Prenzlauer Berg nach Mitte, durchs Regierungsviertel, zur Siegessäule, dann noch weiter zum Savignyplatz, die ganze Kantstraße entlang. Dort meine Asienläden aufgesucht, bemerkt, dass in den letzten fünf Jahren die Ramschware zugenommen hat. Mehrere Minuten lang die fast lebensgroße Figur eines furchterregenden tibetischen Kriegergottes mit einem Will-haben-Gefühl durch die Auslage angestarrt. Schließlich in der Knesebeckstraße in mehreren Buchhandlungen, wobei ich bei der letzten Buchhandlung beim Blättern in einem Buch besagte Mouches volantes auf einmal bemerkte. Dachte zuerst, ein Haar würde hereinhängen, wischte vergeblich weg, rieb das Auge, fluchte halblaut gegen die Deckenbeleuchtung, diese kurz verdächtigend. Es war auch keine verspätete oder verfrühte Gelse. Das Symptom war innerhalb weniger Meter urplötzlich und zum ersten Mal in meinem Leben da. Hielt für nicht auszuschließen, dass mich eventuell die viele Weihnachtsbeleuchtung geblendet hätte. Zuletzt höchstbeunruhigt mit der hüpfenden Gelse vorm Aug über den gesamten blendend-weihnachtsilluminierten Ku'damm. Man sucht fürs erste nach Gründen. Ich hatte einen Bildband des phantastischen Malers Fritz Hörauf in der Auslage des letzten aufgesuchten Antiquariates gesehen, ihn angeblättert, war dann etwas enttäuscht, dass es sich nicht um reale Landschaften handelte. Legte den Band zurück, sagte der Ladeninhaberin: "Hörauf – ein merkwürdiger Name. 'Fritz, hör' auf!', werden sie oft zu ihm gesagt haben." Sie schaute mich fragend an. Unmittelbar DANACH tauchten jene Glaskörperflocken auf und sind auch über Nacht jetzt nicht vergangen, bei ansonsten gutem, durch den gestrigen Marsch angestacheltem Gesamtbefinden. Es will noch immer nicht in mich hinein, wie ein solches Phänomen innerhalb von ein paar zurückgelegten Metern von einem Antiquariat zum nächsten sich einnisten kann. Kurz überlegt, noch einmal dorthin zurück, vielleicht sogar die paar kritischen Meter verkehrt gehend, auch wenn das komisch aussähe, und anschließend den Bildband des Malers Hörauf kaufen. Wären die Fliegen dann weg, wäre es für mich ein Beweis von realer Magie. "Hörauf" könne ja ebenso bedeuten, auf etwas zu hören statt aufzuhören. Auf meinem Fußmarsch gestern übrigens auch durch die Reinhardtstraße, wo mein Blick noch ganz ungetrübten Auges flüchtig auf die an Haus Nr. 34 angebrachte Gedenktafel für Julius Hirschberg gefallen war, der eine mehrtausendseitige 'Geschichte der Augenheilkunde' verfasst hatte. "Ophthalmologen gibt es also auch", murmelte ich im Vorbeigehen, ohne dass das einen Bezug zu mir gehabt hätte. Muss jetzt erstmals mit der Gelse vorm linken Auge zu leben lernen: für einen Leser und Schreiber wie mich freilich äußerst lästig. Noch ein etwas komisches Detail: Vor einem anderen Antiquariat in der schon dunklen Knesebeckstraße kam kurz vor Ladenschluss eine Frau mit einem Kübel Wasser heraus und übergoss damit plumperdings ihr Fahrrad, ohne aber es sonst noch putzen zu wollen.

BEGEGNUNG MIT AGGRESSIVEM SPUCK-LAMA. Dieses alle paar Jahre wiederkehrende "Ereignis". Gestern den halben Vormittag damit verbracht, in verschiedenen Buchhandlungen vergeblich ein passendes Geburtstagsgeschenk für einen äußerst kritischen Leser zu finden. Eine Buchhändlerin beriet mich mit übertriebenem Eifer, als würde sie diesen Freund kennen. Ich kam dann zu dem Ergebnis, dass es überhaupt kein Buch geben könnte, das meinen Freund restlos zufriedenstellte. Auch der neue Jirgl nicht ('Nichts von euch auf Erden'). Uneins mit mir oder doch im Negativen zusehends "eins" mit mir, auch war es frostig insgesamt, schritt ich verkniffenen Blickes wieder heimwärts. Kommt mir doch glatt in der Schönhauser Allee ein noch ziemlich junger, vollbärtiger, nicht einmal ungepflegter Typ entgegen, aus dunklen Augen herausfordernd lachend, und sagt mir boshaft ins Gesicht: "Immer nur Freude!" Er passierte mich mit diesem Satz (der könnte auch gelautet haben: "Immer nur Treue!"), ich drehte mich kurz nochmals um. Blaffte er mich an: "Ihr Möchtegerns!" Und spuckte seinen gesammelten Speichel aus, rotzte ihn als Verachtungsejakulat für Leute wie mich aufs Pflaster. Da hätte man dann doch gern eine Erklärung. Erinnerte mich an einen Gedanken von Friedrich Achleitner: "er möchte gern ein möchtegern sein. ist er aber nicht, sonst möchte er ja nicht gern ein möchtegern sein." Und dass ich, als das Wort "Wannabe" auftauchte, zuerst glaubte, es handle sich dabei um einen japanischen Namen, ausgesprochen "Wanábe".

Die mühsamen Leute. Wenn du ein Bier trinkst, fragen sie gleich: "Peter, du trinkst?" Wenn du eine Zigarette rauchst: "du rauchst?" Das sind diese Prinzipiellen, die nicht nach dem Quantum fragen. Es genügt für sie die EINE Befleckung. Hatten sie mich doch vor Jahrzehnten als strikten Nichtraucher und Nichttrinker konzipieren wollen. Mir sind die Leute lieber, die sagen: "Alles mit Maß!" Und nicht die, deren Modell die einmal und für immer verlorene Unschuld ist. Die moralinsauren Kriminalisierer. Denn ein Mörder ist man auch dann schon, wenn man nur EINEN Mord begangen hat. So ein Raucher bei einer Zigarette nur, ein Trinker nach dem ersten Schluck Bier. Schreckliches Puritanervolk!

Als wären der kleinsten Mysterien derzeit nicht schon genug, kam mir gestern in einem Lokal in Kreuzberg beim Reden plötzlich aus einem winzigen Loch in meiner Jacke eine dann doch große graue Vogelfeder hervor. Während ich mit dem Facebook-Freunde Frank Napieralla mich unterhielt, er war Zeuge. Vorher sang ein gewisser Atze "Kreuzberger Nächte sind lang", setzte sich zu mir, hielt auch meinen Arm manchmal und wollte, dass ich ihm seine Biographie schreibe. 'Für einen König gibt es nur eine Königin' sollte der Titel lauten. Ihm danach, als plötzlich diese Vogelfeder hervorkam, zugetraut, dass er sie mit einer Indianerlist mir zugesteckt haben könnte. Dafür aber hätte er das eine winzige Loch in meiner Jacke kennen müssen, das man eigentlich kaum sehen kann, von dem man wissen muss, um es zu sehen. Und dann in einem von mir nicht bemerkten Moment mir die Vogelfeder hineinschieben. Dass die Jacke mit solchen Federn gefüllt sein könnte, ist unmöglich. Wir rätselten und fanden keine Erklärung. Dass sie mir am Weg "zugeflogen" sein könnte, war ja auch kaum denkbar, und dann noch von selbst in dieses eine einzige Löchlein am Ärmel hineingefunden hätte! Schließlich fragte ich Frank, ob er gar etwa ZAUBERE. Zumal er mich ja im Verlauf des Abends gefragt hatte, wen ich für den größten Zauberer in der Geschichte hielte. Namen wie Cagliostro, Robert-Houdin und Houdini fielen. Erst am nächsten Tag, erst vorhin, als ich AWL die Vogelfeder zeigte, er mir bestätigte, dass mit solchen großen Federn niemals Jacken gefüllt würden, erinnerte ich mich, dass eine Salzburger Freundin sie mir bei einem Spaziergang geschenkt hatte, wie sie mir schon öfters über die Jahre immer wieder Vogelfedern schenkt. Und dass diese graue Feder den Gang durch das Jackenfutter gemacht haben musste, wohl über Monate, um am linken Ärmel sich selber nämlich mit ihrem Kiel jenes Austrittslöchlein zu bohren, als inhärierte ihr ein teleologischer Wille zur Freiheit.

Hatte ich nicht, als mir vorgestern diese Vogelfeder aus dem linken Ärmel fuhr, sogar gesagt: "Wenn wir nur denken wollten, könnten einige Weltprobleme wie der Islamismus mit einem Federstrich beseitigt werden"? Und schon bot sich dieser ins Futter verirrte Federkiel als zielstrebiger Jackenfreiwanderer an.

SCHLANGENMEISTER BEI NOKIA. Gleich vor dem Aufstehen ganz schnell "Schlangenmeister" geworden. Wusste gar nicht mehr, dass das so heißt. Es handelt sich um das alte Handy-Spiel auf meinem uralten Nokia, das ich zuletzt in meinen Vierzigerjahren gespielt hatte. Es waren meine insgesamt fünf besten Resultate noch vermerkt unter "Rekorde". "Schlangenmeister" gar bedeutet: persönliche Bestleistung. Dem ging übrigens meine allererste aktive Entfreundung hier auf Facebook voraus. Aber es ist eine Entfreundung, die mich inspiriert. Es handelt sich um eine Person, die mich ex negativo inspiriert, einen Möchtegernpolitiker, Politikervortäuscher, der zum Beispiel in fünf verschiedenen Städten der Reihe nach erfolglos versucht hatte, für das Bürgermeisteramt zu kandidieren, seine Homepage aber so hochstaplerverdächtig gestaltet, dass man glaubt, er sei auch wirklich Bürgermeister. Der jetzt bei der Rechten sein Glück versucht. Besser aussehend als die meisten anderen bekannten Politiker. Beim Reden sieht es so aus, als würde er das Pult penetrieren wollen. Das ist eine Eigenheit, die er schnell bei einem Rhetorikkurs abzustellen hätte lernen können. Hätte er früh genug sich für ein Lager entschieden, wäre er – rednerisch nicht einmal untalentiert – womöglich etabliert. Aber, etwa gleich alt wie ich, genügten ihm die etablierten Parteien damals nicht, als neue Bewegungen – so die Grünbewegung, noch unklar in ihrer Ausrichtung – entstanden. Ein Jugendfoto von ihm noch gesehen und abgespeichert, das ihn als Westtouristen in der DDR, vor dem Palast der Republik sitzend, zeigt. Dieses Album ist mir jetzt infolge meiner von mir vorgenommenen Ausklinkung nicht mehr zugänglich. Aber was mich an dem Jugendfoto verblüffte, war seine vollkommene, bis zur Identität gehende Lebensabschnittsähnlichkeit mit mir damals als 17-Jährigem, vom Haarschnitt bis zur Kleidung. Er hatte eine weiße Lee-Jean an, die weniger ihm "wie angegossen" passte, als in die sein Fleisch selber wie hineingegossen schien. Ein kindheitsträges, siebzigerjahrverwöhntes Fleisch, verschwulbar. Der sportiv wirken wollende Unsportliche. Haare tief in die Stirn, mehr Bubikopf- als Pilzfrisur, wie wenn die Oma ihm einen Topf aufgesetzt und mit der Schere herumgeschnitten hätte. Eigentlich ein sonniges, mit Süßigkeiten, Roy Black und Uschi Glas, auch noch Georg Thomalla zugefüttertes Gemüt. Es ist nicht die Politik der Hauptgrund, weshalb ich mich von ihm urplötzlich mitten in der Nacht noch entfreundet habe. Diese Entfreundung ist nachträglich in Bearbeitung: Denn ich frage mich, wie entsteht ein Typus? Aus was sind wir zusammengesetzt? Was baut solche Typen auf? Welche über die Medien aufgenommenen Vorbilder? Welcher Modezugang, aber auch welches Ausgeschlossensein von Moden? Wie überhaupt die allgemeine Mode irgendwann einmal, während unserer Adoleszenz, zusammengebrochen ist. Wie ich mich zu einer Generation rechne, die in ihren besten Jahren zu keinem Stil finden hatte können. Wie ich mich dessen nicht mehr schäme. Es schwebt mir angesichts dieses Typus, aus dem auch ich selber hervorgewachsen bin (zu aber anderen Zweigen, Blättern und Früchten), etwas wie ein Sujet vor. Wie Heinrich Mann 'Der Untertan' schrieb, handelt es sich bei unserem Typ um einen Sozialcharakter, aber keinen Untertan. Es ist etwas anderes. Er ist gar nicht so schuldig an sich. Wäre er Opportunist? Dreht er seine Fahne nach dem Wind? Oder ist nicht sein Ego das Zentrum, ein ins Erwachsenenalter verschlepptes kindhaftes Geliebtseinwollen um jeden Preis? Ist es nicht Heintje, der durch sein "Mama!"-Geplärre auch wirklich mütterliche Zuneigung erwerben konnte, weil wir durch das Fernsehen damals so präpariert worden waren?

Wenn jetzt statt des Winters schon, diesen überspringend, der Frühling käme, wäre das ein "falscher Frühling". Er wäre als Symptom einer ernstesten Klimaerkrankung zu betrachten. Mögen die verfrühten Vöglein noch so zwitschern, sie verdienten diesmal kein naturromantisches Gedicht. So der Ernste, der über diesen zu frühen Frühling nur traurig ist. Für den andern ist er eine Erleichterung: für den Gehschwachen, für den Armen, dem jetzt überraschend die Heizkosten erspart bleiben. So wird bei Letzterem in seinem Engmaß UND andererseits Lebenshunger alles der Utilität untergeordnet: die Erde ein zu konsumierender Pudding, nicht viel mehr. Die Erde ist für ihn anthropozentrisch des Menschen wegen da: und zwar erfüllungspräsentisch des HEUTE, JETZT lebenden. Die ethische "Rationalität" darin: nur der Jetztlebende kann Leid und Freude empfinden, nicht die Toten, nicht die Ungeborenen. Damit verwandt, aber nicht so lastengedrückt, der Fröhliche, der es nimmt, wie es kommt – und käme auch nach ihm die Sintflut. Manche verhalten sich noch immer so, als wären Wetter und Klima Bühnenbilder, Theatervorstellungen, die "gegeben" würden (vom "Himmelvater" noch), zu denen applaudiert oder gebuht werden möchte. Der Wetterschnuller. Die Situation ist zu neu.

Gedächtnisübung. "Können Sie Ihren Heimweg gestern genau beschreiben?" Manchmal gelingt es nur vermutungsweise, nach Wahrscheinlichkeiten. Hätte ich etwa diese eine Straße gewählt, hätten sich wohl mehr Sinnesreize erhalten können. Hatte ich die S-Bahn benutzt, dann die Tram? Fuhren die noch um diese Stunde? Es war wie ein Gefühl des Laufens, ja fast Fliegens. Aber ich kann nicht geflogen sein, das ist unmöglich. Dass ich ein Taxi genommen habe, ist auch ziemlich unwahrscheinlich. – Aber Sie haben dann doch noch den Tapir gepostet. Rücken Sie doch heraus mit der Sprache! – Selbst dessen war ich mir nach dem Aufwachen nicht ganz sicher. Ich war übrigens gewarnt worden, mein Guinness nicht, während ich draußen rauchte, alleine am Tisch stehen zu lassen. Es könnte jemand etwas hineintropfen lassen. Und es kann nicht von den Guinness alleine gekommen sein, dass ich einen grammatikalisch fehlerfreien, geradezu schauspielkünstlerischen Monolog von allergrößter Absurdität abgelassen habe, ebenso surreal wie hermetisch? Dabei das Gefühl, zwischen die Generationen gerutscht zu sein. Zu meinem Gegenüber: "Sind wir nicht kommunikationslos zwischen die Generationen gerutscht? Die Alten bogen sich von einem weg, wie auch die Jungen jetzt wieder von uns. Wir sind Aliens, die sich mit Provisorien behelfen müssen. Mutwillig an einem Sinn schmieden, der sich möglicherweise nicht dechiffrieren lässt."

Nachtrag zu meinem mich selber im Nachhinein am meisten überraschenden "magischen Anfall". Antonin Artaud erinnerte sich an einen Schauspieler: "De Max bohrte sich, ohne die Bedeutung seiner Geste zu kennen, mit der Spitze des Zeigefingers das Sonnenauge, er versuchte mit dem Zeigefinger das Fortleben des dritten Auges und den Sitz desselben wiederzufinden, was die indische Metaphysik als Zirbeldrüse bezeichnete. In all diesen übertriebenen Gesten der Schauspieler muss man das instinktive Fortleben einer Magie sehen, wobei diejenigen, die sie ausüben, nicht mehr wissen, was sie bedeutet, und diejenigen, die sich darüber lustig machen, darüber lachen, ohne zu wissen, warum. Und ich möchte sogar behaupten, dass sie Angst vor sich selbst hätten, wenn sie in einem solchen Augenblick erkennen könnten, was in ihnen lacht." (Die Tarahumaras/Revolutionäre Botschaften, München: Rogner & Bernhard, 1975, S. 174) – Und eine weitere kleine, jedoch stille Lektüre-Magie ist nun, dass ich nur zwei Minuten vorher im 'Zauberberg' gelesen hatte, dass der junge Hans Castorp seine Überlegungen, was die Zeit "eigentlich" sei oder dass sie vielmehr nicht "eigentlich" sei ("aber wie lang oder kurz sie in Wirklichkeit ist, das weiß doch niemand"), mit einer höchstmerkwürdigen Geste begleitete, indem er fast karl-valentinesk "den Zeigefinger so fest gegen die Nase (drückte, Anm. PH), dass er ihre Spitze vollständig umbog". "'Sei still, ich bin sehr scharf im Kopf heute. Was ist denn die Zeit?' fragte Hans Castorp und bog seine Nasenspitze so gewaltsam zur Seite, dass sie weiß und blutleer wurde." (Der Zauberberg, Frankfurt a.M.: Fischer, 1980, S. 71)

AWL diktiert seit Stunden einen alten, in Kurrentschrift verfassten Lebensbericht in sein Diktierprogramm. Wortfetzen gelangten mitunter an mein Ohr. "Brennende Lippen..." "Und ich behielt ein Kreuzchen als Erinnerungsstück. Kreuzchen!" (musste mehrmals wiederholt werden, weil das Diktierprogramm sich weigerte, ein solches Wort zu erkennen) "Ich stand in junger Mädchenblüte." Wollte zunächst wirklich nicht wissen, was der da so hartnäckig Wort für Wort diktierte, den ganzen Nachmittag schon. Dachte zuerst noch, es könnte mit seiner Shakespeare-Arbeit zusammenhängen oder mit einem einmal von ihm begonnenen Shakespeare-Roman. AWL liebt es zu diktieren. Amtsstuben-Atmosphäre aus Anno Königlich-Bayerisches Bezirksgericht. Er spricht mit dem Programm wie mit einem echten schwerhörigen und geistig schwerfälligen Schreibdiener. Wirklich Wort für Wort! Auch permanent die Satzzeichen: "Komma", "Punkt", was ich am meisten in mein Zimmer herüberhöre. Langsam geht das voran, für meine Begriffe elendiglich. "Lämmer... Lämm-mer... Lämm-mer!, Komma, welche..." "Mit seiner reizenden Tochter... rei-zenn-denn!, Komma..." "Und Anmut, Komma, ja. Von einer Na-i-vi-tät, wie sie bei unszulande nur bei einem acht Jahre alten Mädchen gefunden werden dürfte Punkt." "... stolze Schönheit von achtzehn Lenzen Komma." "Blut Auge Blut Auge Blut... Komma." Wenn das von Shakespeare tatsächlich war, was AWL diktierte, war Shakespeare schlecht. Oder wenn es eine Übersetzung war, die Übersetzung. Als das Stichwort "junge Mädchenblüte" fiel, dachte ich, es könnte von Marcel Proust sein. Siehst du, dachte ich, man braucht einen berühmten Text nur entsprechend langsam zu lesen oder hölzern-paukend zu diktieren, und er zerfällt zu Kitsch. Mir grauste auf einmal vor dem ganzen Gewerbe. Als das so weiterging, geriet sogar auch noch die Liebe selber in Verdacht. Wie sich nun herausstellte, handelte es sich um einen gewöhnlichen Lebensbericht einer gewöhnlichen Person, wobei mit dem Satz, der soeben gefallen ist: "Das Lagerleben war sehr monoton", auch von mir Ernst eingefordert wird, handelt es sich doch, wie AWL mir erklärte, um 'Transvaal-Erinnerungen', einen Bericht aus dem Burenkrieg.

Heute absichtlich mal ganz früh auf. Kämpfe wie immer dann mit den Mauern verschiedener Rationalitäten, die mir zugemutet und von mir erwartet wurden. Damit man sich darunter auch etwas vorstellen kann: Ich hätte ein motorisierter Mensch werden sollen und bin es bis heute nicht geworden. Lese, dass der Indianerstamm der Tarahumaras sich selber "rarámuri" genannt hatte: "die, die zu Fuß laufen". Also zum "Fußvolk" zu gehören, ist bereits eine Quelle möglichen Spotts. Das ist aber nur ein Beispiel. Bis heute kämpfe ich damit, in der Kindheit vielfältig "sekkiert" worden zu sein, besonders in den Morgenstunden spüre ich das: das Nessushemd sehr lange zurückliegender Tratzereien. Versuche den Tápirsrüssel dagegen zu schlagen wie gegen Moskitos. Oder unter Wasser zu tauchen, um diese lästigen Insekten der "Moral" hinter mich zu lassen und ihnen beim Schwimmen um ihr Leben zuzusehen. Bin in Gedanken bei allen Abweichlern, Eigensinnigen oder Abgedrängten, die ein schlechteres Los getroffen haben. Es gilt um jeden Preis auf dem Dampfer zu bleiben. Sich zu halten. Manche haben eine wunderbare, genaue Sprache entwickelt, aber von den Ihren werden sie nicht gehört – niemals. Sie stoßen auf das "hohe Schweigen", von dem Thomas Mann einmal gesprochen hat. Und die Miene des "hohen Schweigens" ist eine meist dumme, wenn wir sie mal gleichfalls respektlos betrachten wollen, die uns seit je respektlos betrachtet hatte. Auf die gleiche Augenhöhe der Respektlosigkeiten kommen. Dann das Visier herunterklappen, kampfbereit. Entschlossen, das Eigene nicht nur zu verteidigen, sondern Terrain für es hinzuzugewinnen.

BIS ZUR NÄCHSTEN DÜNE. Alle hundert Jahr blätterte die vielbelächelte wundertätige, verschleierte Mumie in jener Höhlennische die Seiten eines großen Buches um. Darum entstand ein Wirbel unter hüpfenden Baldachinen auch schon jahrhundertelang. Dann aber kamen neue Bestreiter, die durch Lautsprecher riefen: "Reißt es nieder, das Ding!" Es ward niedergerissen, danach war nichts. Wüsteneien nur, welchen so langweilig wurde, dass von Zeit zu Zeit viel Staub aufwirbelnde Explosionen sie erschütterten. Bis zur nächsten Düne, WALZE DER GEZEITEN. Ein uralterszitternder genauer Daumen blättert noch immer mit Spucke bei jeder Seitenwende.

"Mit der Zeit gehen". Der Optimist (häufig kaum vom Opportunisten unterscheidbar) sagt, man müsse mit der ZEIT gehen. Der Pessimist: man müsse mit der Zeit – GEHEN. Wer weggeht, vor allem der, der ultimativ weggeht, ist kein Opportunist.

Absurd-anachronistischer Verleser: Statt "Österreich gehört den Tatkräftigen" gelesen: "den Tabaktrafikanten".



© beim autor




Logo Verlag ein projekt [ag literatur]
blättern [zurück] [weiter]
[verlag] [zeitschrift] [archiv] [verein]
[autor|inn|enindex] [reihenindex] [textindex]