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[heft 1] [jänner 2011] wien - st. wolfgang



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Kunst und Provinz | 1899
Peter Rosegger

Mit meinem heutigen kleinen Gastspiel als Standredner in Wien werde ich bei den Großstädtern nicht gar viel Beifall finden – am wenigsten bei meinen verehrlichen Zeitgenossen von der Feder. Die Schuld daran fällt aber lediglich auf Hermann Bahr, der mich eingeladen hat, den Großstadtgeistern ein kleines älplerisches Donnerwetter zu machen. Bahr kennt meine Schwächen, die Abneigung gegen große Städte, die Vorliebe für das Landleben. Und da hat er die Großstädter halt ein wenig bei mir verklagt, weil sie alleweil just meinten, das geistige Leben mit Löffeln gefressen zu haben, während da draußen in der Provinz alles gründlich verphilistert, wenn nicht gar verbauert sei. Sofort falle ich ’rein.

Ja, meine lieben Wiener! Wir da draußen auf dem Lande sehen euch schon lange zu, wie ihr ganz auf eigene Faust Kultur, Zivilisation und Fortschritt spielt, so selbstbewußt und ausschließlich, als ob es hinter den Bergen keine Leute gebe. Die Hauptstadt geht voran! Das wäre ja ganz natürlich, wenn es – natürlich wäre. In vielen Dingen mag es stimmen, was jedoch das geistige Leben anbelangt? – Freilich gibt es in der Großstadt eine Menge Bildungsanstalten, aber solche gibt es auch auf der Provinz und verhältnismäßig sogar mehr. Freilich gibt es in der Großstadt überall gesellige Kreise, man geht in dieselben aber nur zumeist um geistreich zu sprechen, statt gelehrig zuzuhören. Man will sich nicht sammeln, man will sich zerstreuen. Der Geist geselliger Menschen gibt sich in Kleingeld aus; es mögen glänzende, klingende Münzen sein, aber sind nicht viel wert.

Wie sehr die Großstadt einen verlottern kann, davon ein Beispiel. Ich hatte in Graz einen jungen Freund. Das war ein frischer, für alles Ideale glühender, in seiner edlen Begeisterung fast revolutionäre Bursche. Der ging auf einige Jahre nach Wien – und wie kam er zurück? – Was er früher in langen Oden gepriesen, das verlohnte ihm jetzt kaum eines Wortes. Natur? „Nur in schönen Weibern.“ Menschenliebe? „Fängt bei sich selber an.“ Nationalität? „Unsinn!“ Religion? „Blödsinn!“ Menschenrechte der arbeitenden Klassen? „Torheit!“ Kunst und Wissenschaft? „Ach, laß mich. Ich will das Leben genießen.“ – Er war ein „fescher Wiener“ geworden. Andererseits kenne ich auch Wienerkinder, die, von der Provinz in die Großstadt zurückgekehrt, nur mehr naturbummeln oder büchergucken wollen und für’s Kaffehaus kein Talent mehr haben. Sie sind eben „verbauert“.

Die Mutter des Geistes, der Seele und des Könnens ist die Einsamkeit. Freilich gibt es auch in der Großstadt Einsamkeiten, aber es sind die zerstörenden Einsamkeiten der Mauern, des Gefangenen, sie sind nicht kräftigend und fruchtbar, wie die Einsamkeiten der Auen, Wälder und Berge. In der Stadt liegt zwischen Natur, Leben und dem Dichter fast immer das Buch. und über den Buchrand blinzelt er hinaus, was es Neues gibt im Salon, im Atelier, in der Literatur. Der Großstädter ist ein sehr naiver Patron, von allem, was der Tag Auffallendes, Neues bringt, glaubt er, es sei Fortschritt. Es ist aber zumeist nur ein Witz des Momentes, im besten Fall eine Mode. Der Provinzler sieht erst zu, welches Lehrgeld der Großstädter für die Neuheit zahlt; wenn sie sich bewährt, denn greift er auch danach. Der Provinzler übersieht oft die Mode, nie aber den Fortschritt.

Manchmal will auch mich die Einförmigkeit des Landlebens, der Provinzstadt verdrießen, dann gehe ich sofort in den Großstadt. Nach längstens zwei Tagen komme ich geheilt zurück und pfeife mein Liedel: „Wie schön ist das ländliche Leben!“ Dort in den Höhlen der ungeheuren Steinhaufen gibt es ja gewiß manch großes und edles Genießen, doch im allgemeinen ist das Dasein des modernen Großstädters kein Leben mehr, bloß eine Jagd nach Leben. Er sucht alles, nur sich selbst nicht, findet vieles, nur sich selbst nie. Er muß in einem äußerst gespannten Verhältnis mit sich selbst stehen, denn zu allen möglichen Leuten kommt er, nur zu sich nicht. – Donnerwetter, das klingt so witzig als hätte es ein Großstädter gesagt!

Es ist also durchaus nicht sehr natürlich, daß die Großstadt stets der Vorort geistigen Lebens sei. In ihr ist – trotz aller Talente, die sie erzeugt – das geistige: das politische, besonders aber das schöpferische Leben vielfach erschwert. Ganze, starke Menschen lassen sich freilich auch von der Großstadt nicht unterkriegen, wissen vielmehr aus ihr Gewinn zu schöpfen. Oder sie ziehen doch fort in kleinere Wohnorte, wo Kultur und Natur sich harmonischer vereinigt und der Mensch sich nach beiden Seiten ruhiger und doch tatkräftiger ausleben kann. Wer in der Großstadt zum Beispiel poetisch etwas Bedeutendes leisten will, der muß sich wohl in strenger Selbstzucht halten, das kommt ja vor. Das geistige Durchschnittsleben großer Städte - ich behaupte es dreist - steht auf einer niedrigeren Stufe, als das kleinere Kulturzentren der Provinz.

Anstatt mit dem prophezeiten Donnerwetter komme ich demnach mit einer Tracht aufrichtigen Bedauerns. Vom armen Großstädter – es ist hier geradehin der Literaturmensch gemeint – ist es gar nicht zu verlangen, daß er sich sammle, vertiefe und große Werke schaffe. Seien Sache ist es vielmehr zu karrnen, wenn Könige bauen, nämlich die anderwärtig entstandenen Meisterwerke der Literatur und Kunst zu kritisieren und womöglich zu demolieren. Es wird denn auch nirgends so viel über Schrifttum und Kunst gesprochen, geschrieben, als in großen Städten. Die Ansichten und Meinungen, wie schlecht es die Schaffenden gemacht haben und wie sie es nicht hätten machen sollen, bilden also auch den Hauptgesprächsstoff der geistigen Kreise. Kurz und gut: Auf der Provinz wird mehr geschaffen, in der Großstadt mehr kritisiert. Kritisiert vorwaltend allerdings wieder nur das, was aus Großstädten kommt. Die Provinz wird am liebsten ignoriert.

Nun ist es nach solchem Befunde für den Provinzler wohl keine allzugroße Anmaßung, wenn er das geistige Leben der Provinz dem der Großstadt als mindestens ebenbürtig an die Seite stellt. Die Dreistigkeit wird einer Prüfung unterzogen werden. Man will eine Rundschau halten lassen über die deutschen Kronländer Österreichs, wie es dort mit dem geistigen Leben aussieht, ob – mit der Lupe geforscht – nicht am Ende auch in den Sudeten, im Böhmerwald, in Oberösterreich oder gar in den dunklen Alpenländern Dichter und dergleichen zu finden wären. Wenn man manchmal ein Wiener Blatt in die Hand bekomm, so findet sich darin fast immer ein ausländisches Buch behandelt; wie häufig werden Bücher fremder Zungen vorgeführt, die jedenfalls immer den Vorteil haben, weit her zu sein. Unsere Provinzler sind nicht so weit her, hingegen stehen sie uns näher. Sie sprechen die Angelegenheiten unseres Herzens, unseres Lebens, unseres Volkes, sie haben manche Offenbarung, die den lieben Wienern mindestens so gefällig und wertvoll sein kann, als die eines französischen oder russischen Autors, der uns deshalb interessant ist, weil man von ihm spricht, und von dem man nur deshalb spricht, weil die ausländische Reklame klingelt, die wieder nur deshalb klingelt, weil die Verleger Geld haben wollen. Wir haben in unserem Lande Dichter, die nicht modern sind, nie modern waren und nie werden, weil sie für keinen Geschmack schreiben, sondern aus frischem Menschenherzen und für solche. Mit Stolz dürfet ihr auf die großen Geister eures alten kleinen Wiens weisen; mit stolz aber auch weist die Provinz auf die ihren: Adalbert Stifter, Franz Stelzhammer, Anastasius Grün v. Leitner, Robert Hamerling, Hermann Glim, Adolf Pichler, Karl Morre. Dann die Jüngeren und Jungen, A.v.Hörmann, W. Fischer, Wolf Schönherr, Greinz, Renk, Langmann, Wichner, Keim, Ertl, Kienzl (ganz sicher vergesse ich in der Eile vorzügliche Namen) – sie kommen frisch angerückt zu einem lustigen Strauß mit den Kollegen der Hauptstadt. und wollte man aus der Provinz, von Gelehrten gar nicht zu sprechen, auch die Musiker, Maler, Bildhauer und Schauspieler laden, so würden sie vielleicht gesellschaftlich und geschäftlich etwas ungeschickter sein als die Kollegen der Großstadt, aber kaum weniger können, als diese. Da draußen wachsen die Originale, die eckigen markigen Kerle. Sie sind – um im Tone eines altberühmten Predigers zu reden – nicht Schöngeister und nicht Höhngeister, sie sind Könngeister.

Ich wünsche Glück zur Entdeckung der Provinz, sie wird dem geistigen Leben der Großstadt eine recht beträchtliche Bereicherung bringen, vor allem aber die Einsicht, daß die „Elite der Intelligenz“ nicht bloß in großen Städten sich aufhält.

Der Provinzler will ja gerne bescheiden sein, aber erst dann, wenn der Großstädter – seinen Größenwahn aufgibt.

aus: peter rosegger: volksreden über fragen und klagen, zagen und wagen der zeit.
verlag e. kantorowicz: berlin 1908, S.150-157.

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