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[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang



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1900:1999=0,9504752 | Fragen ohne Ordnung | 2000
Erste Wiener DenkFabrik [Programmtext]


Die wesentlichen Probleme, die bereits am Beginn unseres Jahrhunderts existierten, sind nach wie vor ungelöst. Und wir nehmen uns immer weniger Zeit, um über sie nachzudenken. Wir sind ins Handeln, ins Tun verliebt und haben immer weniger Gelegenheit, unser Tun zu befragen. Wir sind so mit der Erforschung und Bedienung der von uns entwickelten Geräte und politischen Systeme beschäftigt, daß wir für Zukunftsentwürfe, für Denkmodelle jenseits von Computerprognosen kaum noch Zeit haben.

Weil Millionen, die effektiv noch etwas tun, dabei das Gefühl haben "getan zu werden": nämlich tätig sind, ohne sich das Ziel ihrer Arbeit selbst vorzunehmen oder ohne deren Ziel auch nur durchschauen zu können.
Günther Anders 1959

Das 20. Jahrhundert war geprägt von utopischen Organisationsmodellen, die im 19. Jahrhundert entwickelt wurden und über revolutionäre Prozesse in alle Weltgegenden einsickerten. Mexico und Rußland sind dabei nur zwei Symbole des Widerstands gegen hierarchisierte Herrschaftssysteme. Gerade im heutigen Mexico zeigen die Zapatistas, daß der Kampf noch nicht verloren scheint. Doch die Frage bleibt: Ist es möglich, mit gesellschaftlichen Thesen und Modellen des 19., ja in manchen Fällen des 18. Jahrhunderts, das 21. Jahrhundert zu fassen? Ist es noch möglich, den einen, großen Gesellschaftsentwurf zu machen, wenn sich die von uns produzierten gesellschaftlichen Verhältnisse und die damit verbundenen technischen und ökonomischen Systeme schneller entwickeln, als wir Menschen uns ihnen anpassen können? Kaum haben wir die Bedienung eines Gerätes mühselig erlernt, kommt bereits das nächste auf den Markt. Kaum haben wir ein politisches System durchschaut, hat sich schon wieder ein neues etabliert.

Die Zeit ist geradezu aufgehoben. ... Es gibt keine Verzögerungen, auch keine Kontrollpausen mehr. ... Diese neuen Möglichkeiten der Omnipräsenz, der Allgegenwart aller potentiellen Informationen über Ereignisse, Handlungen und dergleichen mehr, die erneut Ereignisse und Handlungen in Gang setzen, bergen die Gefahr in sich, dass die Gegenwartsfixierung überhand nimmt. Alle Institutionen und Personen müssen alle Kraft zusammennehmen, all ihre Aufmerksamkeit, um in der rasch wechselnden Fülle der Informationen sich zurechtzufinden und handelnd zu überleben. Darum ist Planung zu einem Unwort geworden. Darum droht aller Fixierung auf die Zukunft, die Zukunft verlorenzugehen.
Wolf Dieter Narr

Eine der wesentlichsten gesellschaftlichen Kategorien dieses Jahrhunderts ist die Geschwindigkeit. Wie kaum in einem anderen Jahrhundert hat sich die Zahl der Innovationen in allen Bereichen unseres Lebens vervielfacht. Die Geschwindigkeit, mit der wir eine Innovation durch die nächste ersetzen, hat sich enorm beschleunigt.
Eine dieser Innovationen sind die technischen Netzwerke. Sie haben nicht nur die Mobilisierung und Flexibilisierung der Menschen möglich gemacht, sondern auch die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse enorm beschleunigt. Beginnend mit dem Schienennetz, fortgesetzt mit dem Straßennetz, mündeten sie schließlich in die Kommunikationsnetze. In nur 150 Jahren haben sie das Bild der Welt verändert. Die sozialrevolutionären Ereignisse, die sozialen Utopien waren dabei nur Hilfssheriffs zur Durchsetzung dieser Netzwerke. Den endgültigen Sieg hat die technische Utopie aber davongetragen, als die Menschen daran gingen, diese Netzwerke zusammenzuschließen, ineinander zu verweben, ein multimediales Mobilitätsnetzwerk zu schaffen.
Die technologischen Möglichkeiten zum Kommunikations- und Informationstausch sind also besser denn je zuvor. Dennoch ist die Isolation und Individualisierung des Menschen rasch vorangeschritten. Wir haben es nicht nur mit einem Massenmenschen, sondern auch mit einem Masseneremiten zu tun. Durch die Neuen multimedialen Techniken haben nicht nur die Kategorien Zeit und Raum, sondern auch Nähe und Distanz eine neue Bedeutung bekommen. Wir sind ständig auf der Suche nach den anderen und verpassen sie permanent. Vielleicht verpassen wir sie auch vorsätzlich, weil wir nicht mehr wissen, was wir uns wie zu sagen hätten, wenn wir uns plötzlich von Angesicht zu Angesicht, von Körper zu Körper und nicht nur von Maschine zu Maschine begegnen würden.

Utopien erweisen sich als weit realisierbarer, als man früher glaubte. Und wir stehen heute vor einer auf ganz andere Weise beängstigenden Frage: Wie können wir ihre endgültige Verwirklichung verhindern? ... Utopien sind machbar. Das Leben hat sich auf die Utopien hinentwickelt. Und vielleicht beginnt ein neues Zeitalter, ein Zeitalter, in dem Intellektuelle und Gebildete Mittel und Wege erwägen werden, die Utopien zu vermeiden und zu einer nichtutopischen, einer weniger "vollkommenen" Welt und freieren Gesellschaft zurückzukehren.
Nikolai Berdjajew

Es ist noch keine 60 Jahre her, da lag Europa in Trümmern und nun reden wir vom globalen Dorf, von einer globalen Wirtschaft, vom globalen Handeln. Es ist erst 30 Jahre her, daß wir auf dem Mond gelandet sind und schon planen wir eine internationale Weltraumstation im Orbit. Es ist noch keine 10 Jahre her, daß das Internet in unser Leben trat und heute erachten wir es für unverzichtbar zur Lösung all unserer Probleme. Mit der Einführung der neuen Informations- und Kommunikationsnetzwerke wurden die Ablösungsprozesse noch einmal beschleunigt. Dabei erhebt sich die Frage: Wieviel soziale Geschwindigkeit und technische Beschleunigung verträgt der Mensch?
Wir leben so, als könnten wir bis in alle Zukunft beschleunigen, so als wäre der point of no return noch nicht erreicht. Können wir da so sicher sein? Ist es wirklich undenkbar, daß das Weltökonomie bzw. Weltökologiesystem von einem Tag auf den anderen kippen könnte? Haben wir Vorkehrungen für den Tag danach getroffen? Gibt es gesellschaftliche Konzepte für den ökonomischen und ökologischen day after? Was bedeutet uns noch das Wort Zukunft, wenn wir sie bereits durch die Gegenwart außer Kraft gesetzt haben? Und was für eine Politik ist da noch vorstellbar? Helfen uns die sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts noch?

Die Bourgeoisie (...) hat alle feudalen, patriarchalen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat (...) kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose "bare Zahlung".
Marx|Engels 1848

Am Anfang traten Psychoanalyse, Feminismus und Sozialismus als Visio-nen des 19. Jahrhunderts an, um große Teile der Gesellschaft in die neuen (klein-)bürgerlichen Verhältnisse zu integrieren, die sich am Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hatten. Es waren innovative und für die Menschen an der Wende zum Industriezeitalter notwendige Integrationsmechanismen. Sie stellten zwar die gefühllose, bare Zahlung als Kommunikationsprinzip zwischen Menschen in Frage, aber gleichzeitig wollten sie, solange der Übergang in eine andere bessere Gesellschaft nicht geschaffen wurde, möglichst viele Menschen an den Profiten dieser baren Zahlung teilhaben lassen, sie aus ihren psychischen, geschlechtlichen und ökonomischen Unterdrückungsverhältnissen herausholen. Konnten diese Theorien mit ihren Methoden und politischen Strategien in der Praxis des 20. Jahrhunderts noch ihre positiven Wirkungen entfalten, so müssen wir uns heute fragen: Taugen sie noch zur Bewältigung jener Probleme, die sich uns an der Jahrtausendwende entgegenstellen? Ist mit Psycho|Esoterik, Gleichberechtigung und Vollbeschäftigung noch irgendetwas zu gewinnen? Und wenn ja, gegen wen? Was haben wir denn noch zu gewinnen, wenn die sozialen Utopien längst von den technischen abgelöst wurden?

Wir sind die BORG. Lassen Sie ihre Schutzschirme fallen. Sie werden assimiliert. Widerstand ist zwecklos.
Star Trek | Der erste Kontakt | 1997

Der Kampf der sozialen Utopien wurde auf den ökonomischen Schlachtfeldern dieses Jahrhunderts ausgetragen. Der Krieg um die ideologische Vorherrschaft drückte der Arbeit seinen Stempel als produktive Arbeit auf. Nur Arbeit die Produkte lieferte, ob nun im Osten oder im Westen, war gute, nützliche und daher akzeptierte Arbeit. Heute verschwindet menschliche Industriearbeit zusehends. Wenn wir nicht wollen, daß Lohnarbeit nicht gänzlich zur Beschäftigungstherapie verkommt, sollten wir den Begriff Arbeit nicht nur neu diskutieren, sondern ihn auch neu definieren, denn der Mensch rückt immer weiter an die Peripherie der Gesellschaft und die Maschine tritt immer stärker in den Blickpunkt des Interesses.
Schon im Nationalsozialismus wurde uns vorexerziert, wie der Mensch per Ideologie zur Ressource|zum Rohstoff (Haut, Zähne, Knochen, Haare) gemacht wird, um aus ihm Produkte|Waren (Lampenschirme, Seife, Goldbarren) herzustellen. Heute im Zeitalter der Maschinen|Computer sollten wir uns fragen: Was ist der Mensch? Eine Arbeitskraft? Ein Rohstoff? Ein notwendiges Übel? Ein Produkt seiner eigenen Produktionsverhältnisse? Eine unvollkommene Maschine? Eine Mißgeburt des 19. Jahrhunderts? Oder einfach nur eine evolutionäre Sackgasse.

Protest ist, wenn ich sage, das und das paßt mir nicht. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß das, was mir nicht paßt, nicht länger geschieht. Protest ist, wenn ich sage, ich mache nicht mehr mit. Widerstand ist, wenn ich dafür sorge, daß alle anderen auch nicht mehr mitmachen.
Ulrike Meinhof 1976

Vielleicht sollten wir kleine Kollektive in die Welt werfen, Widerstandszellen entwickeln, die nicht nur virtuell, sondern real, vor Ort, miteinander kommunizieren und so die Welt verändern. Als eine solche Widerstandszelle begreift sich auch die Erste Wiener DenkFabrik. Sie hält in unregelmäßigen Abständen sogenannte Encuentros ab. Das spanische Encuentro bedeutet: Zusammenkunft, Versammlung, Begegnung. In diesen Begegnungen diskutieren wir in lockerer Atmosphäre, ohne den Druck, Ergebnisse erzielen zu müssen, Fragen und Probleme unserer Zeit. Die im Programm der Veranstaltungsreihe als Podiumsteilnehmer genannten Personen sehen wir als Impulsgeber. Je länger die Veranstaltungsreihe dauert, desto weniger Bedeutung soll ihnen zukommen. Wir wählen die klassische Form einer Podiumsdiskussion, weil wir noch immer gewohnt sind, jemand vor uns zu haben, der für uns denkt. Dieses Vordenken wollen wir in ein Mitdenken verwandeln. In diesem Sinn will die Erste Wiener DenkFabrik der Gesprächs|Kunst|Kultur ein Forum bauen, den aktuellen Diskursen eine angemessene Öffentlichkeit bieten sowie dem Denken allgemein Raum geben. Einem Denken, das sich kreuz und quer bewegt, das sich ins Abseits wagt.

Es wäre viel gewonnen, wenn das Denken dahin käme, ganz sich selbst zu denken, und wenn es entdecken könnte, was in seinem Schatten liegt.
Michel Foucault

Denn das Entdecken gehört zum Prinzip Hoffnung.

Es kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern. Der Affekt des Hoffens geht aus sich heraus, macht die Menschen weit, statt sie zu verengen. Die Arbeit dieses Affekts verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören.
Ernst Bloch 1943-48

In das Werdende hineinwerfen, darum soll es in der Ersten Wiener DenkFabrik gehen. Es sollen offensive Konzepte der gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten, aber auch gleichzeitig deren Grenzen aufgezeigt werden.

Es genügt nicht, die Welt zu verändern. Das tun wir ohnehin. Und weitgehend geschieht das sogar ohne unser Zutun. Wir haben diese Veränderung auch zu interpretieren. Und zwar, um diese zu verändern. Damit sich die Welt nicht weiter ohne uns verändere. Und nicht schließlich in eine Welt ohne uns.
Günther Anders 1979


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