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[heft 4] [dezember 2011] wien - st. wolfgang



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Inselkind
Tanja Shahidi

Schon auf die Frage nach seiner Herkunft war seine Antwort eine zweifache. Aus seinen Augen sprach Sehnsucht. So dachte ich jedenfalls.

Zurück? Wohin zurück sollte ich gehen?

Die Kinder der Insel sprechen eine andere Sprache als wir, die wir von Land umgeben sind. Eine zweifache Sprache. Wasser und Erde. Erde und Wasser. Gefragt habe ich ihn nicht nach dem Krieg.

Als der Krieg ausbrach, war ich noch ein Kind. Von unserem Haus aus sah ich die Front. Ich sah, wie die Stadt beschossen wurde. Krieg – ein neues Wort. Was der Krieg war, warum der Krieg war, nein, das wusste ich nicht. Was ich wusste? Nichts!
Woran ich mich erinnere?
Ich erinnere mich, dass ich ihn nicht mochte, den Krieg. Niemand mochte ihn.
Die Großeltern lebten auf einer Insel. Umgeben von Wasser. Irgendwann ging der Krieg zu Ende. An einem Regentag. Zigeunerregen.

Wohin zurück sollte ich gehen? Nach Hause? Mein Zuhause hat viele Namen. Geboren hat mich meine Mutter. Am Leben erhalte ich mich alleine. Ich gehe, wohin ich gehen will. Gestern, heute und morgen.
Wohin ich gehen will? Ich wollte alles und nichts. Überall, nirgendwo, einerlei, zweierlei, dreierlei. Der Wind kennt viele Namen. Vielleicht will ich einfach nur bleiben.

Gearbeitet habe ich hier und dort. Ich war oben und unten, arm und reich. Was mir bleibt ist nicht viel.
Jung? Ich bin nicht jung. Mein Leben war länger als deines, und meine Geschichte beginnt jeden Tag neu.
Zurück? Ich gehe nicht zurück! Jeder Frühling treibt neue Blüten.
Der Krieg verändert die Menschen. Die einen wie die anderen. Wie es davor war, weiß ich nicht. Der Krieg lebt an vielen Orten, so wie ich.
Vielleicht suche ich einfach nur Frieden.

Wenig, viel, nichts, alles. Meine Heimat hat keinen Namen.

Ich habe früher begonnen zu leben als die meisten von euch. Und wie du siehst – ich lebe noch immer.
Was ich habe? Wenig! Heute weniger als gestern. Mein Besitz heißt Freiheit. Die Freiheit der Besitzlosen. Wer nichts hat, hat nichts zu verlieren. Wie ich gekommen bin, werde ich gehen. Du aber wirst bleiben. Wer von uns ist reicher?
Vielleicht will ich einfach nur fort.

Wo ich bin, ist niemand sonst. Ich bin überall. Alleine.




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